Welche Rolle spielt Neugier im Lernprozess?
Gemeinsam mit den Lehrenden will Lucas-Nülle Faszination und Neugier auf Technik für unser Berufsleben nutzen. Doch was ist Neugier eigentlich? Und gibt es Techniken, die Neugier gezielt fördern? Diesen Fragen sind wir gemeinsam mit Carl Naughton nachgegangen, der sich im Merck “Curiosity Council” wissenschaftlich mit den Zusammenhängen zwischen Neugier, Lernen und Beruf auseinandersetzt.
Carl Naughton setzt sich im Merck “Curiosity Council” wissenschaftlich mit den Zusammenhängen zwischen Neugier, Lernen und Beruf auseinander.
LN: Hallo Herr Naughton: Im Curiosity Council haben Sie ein Instrument entwickelt, mit dem man die Neugier messen kann. Was bringt einem denn ein hoher Neugier-Quotient?
Carl Naughton: „Wir können tatsächlich belegen, dass eine hohe Neugier mit Lernerfolg und auch beruflichem Erfolg zusammenhängt. Wir stellen dafür den Neugierquotient dem IQ und dem gegenüber, was man gemeinhin als ‘Biss’ bezeichnet. Das Ergebnis ist, dass neugierige Menschen bei gleichem IQ erfolgreicher lernen. Einfach, weil sie es wirklich verstehen wollen und sich nicht nur durchbeißen. Man kann prinzipiell auch ohne Neugier lernen. Mit Neugier ist es aber einfacher und auch nachhaltiger.”
LN: Wie kann man diese Erkenntnis im Alltag nutzen?
Carl Naughton: „Sie meinen, ob man Zwangsfaszinieren kann? Dass das prinzipiell geht, beweist uns das Fernsehen jeden Tag. Sogenannte ‘Cliffhanger’ versuchen ja ganz gezielt, uns mit Wissenslücken zu ‘ärgern’. Anders gesagt nutzen Sie Entdeckerfrust.”
LN: Bedeutet das für die Bildung nun, dass alle Lehrenden ein Storytelling-Praktikum in Hollywood machen müssen?
Carl Naughton: „Ja, das wäre der Königsweg [lacht]. Nein, Spaß beiseite. Man muss das Rad zum Glück nicht neu erfinden. Es gibt bereits erfolgreich getestete Techniken, mit denen wir die Neugier für den Lernerfolg nutzen können. Das ‘Right Question Institute’ hat beispielsweise die ‘Question Formulation Technique’ (QFT) entwickelt. Sie besteht aus fünf festen Schritten und im Wesentlichen darin, dass Lerngruppen die zu lösenden Fragen selbst entwickeln. Nachweislich sind sie daraufhin viel stärker an der Beantwortung der Fragen interessiert, weil jeder seine Fragestellung einbringen kann.”
LN: Man soll die Lernenden also einfach machen lassen?
Carl Naughton: „Das würde ich so nicht formulieren, denn es gibt ein klares Lernziel. Der Weg dorthin sollte jedoch möglichst breit sein und möglichst viele Seiteninformationen zulassen. Hegel sagte, der Weg des Geistes sei der Umweg. Wenn man den Umweg nicht zulässt, bewegt sich der Geist nicht. Das kostet auch keine Zeit. Die Stunden, die man sonst darauf verwendet, auf die Leute einzureden, kann man auch dafür nutzen, sie selbst etwas rausfinden zu lassen. So eine ‘Neugierdidaktik’ initiiert nur die Exploration. Dass man trotzdem auf ein klares Lernziel hinarbeitet, stellen die besagten Techniken sicher.”
LN: Der Lehrende ist also auch hier vor allem als Moderator gefragt?
Carl Naughton: „Durchaus. Von den Lehrenden verlangt es dann ebenfalls Anspannungstoleranz. Sie müssen es aushalten, dass sich die Gruppe auf dem Weg zum Lernziel womöglich völlig verzettelt oder auch recht unbequeme Fragen stellt. Wenn wir aber die Lernenden ermutigen, auszuprobieren und zu experimentieren, leben wir ihnen ein ganz anderes Verhalten vor als unter der Devise: Löse Aufgabe A nach Schema B und deine einzige Motivation ist Note C.”
Faszination und Neugier auf Technik:
Ihr Labor mit Lucas-Nülle
LN: Nun bedeutet Lernen aber oft mühevolle Detailarbeit. Kann man auch dabei neugierig bleiben?
Carl Naughton: „Ob es nun um weltbewegende Fragen oder kleinteilige Millimeterarbeit geht, spielt eigentlich gar keine Rolle. Die Frage ist immer die gleiche: Warum will ich es wissen? Und hier greifen wieder die ersten beiden Dimensionen. Entweder ich habe einfach Lust darauf, etwas Neues zu erfahren oder es ärgert mich, dass ich etwas nicht weiß. Zu der Frage wie ich es schaffe, dass die Lernenden am Ball bleiben, lohnt ein Blick auf die Arbeit von Robert Cialdini. Er hat seinen Studenten reale Geschichten erzählt, denen ein Widerspruch innewohnt. Sein Ausgangsbeispiel war, dass die US-Tabakindustrie in den 1980ern auf Werbung verzichtet hat und damit ihren Umsatz steigern konnte. Eine andere solche Frage wäre, wie ein Schiff gegen den Wind segeln kann. Für die Auflösung dieses Widerspruchs hat er dann vier feste Schritte definiert. Sein Ansatz erlaubt es, dass jeder Lernende dann in die Problemlösung einsteigt, wenn er sich wohlfühlt. Was wir Lehrkräfte immer glauben ist, dass jeder von Anfang an zu 100 Prozent dabei sein muss. Das ist aber unrealistisch.“
LN: Wir wollen gemeinsam mit den Lehrern, Dozenten und Ausbildern den Drang auf Wissen über experimentelles Lernen fördern. Wie bewerten Sie diesen Ansatz aus Neugier-Sicht?
Carl Naughton: „Ich bin nicht nah genug am Thema, um das genau zu beurteilen. Ich würde aber zwei Fragen voranstellen. Erstens: Welche Neugier meine ich mit Experimenten? Spreche ich von der perzeptuellen Neugier, also dem Ertasten und Erfühlen, dann muss das noch lange kein Lernen bedeuten. Blicken wir hingegen auf die für das Lernen wichtige epistemische Neugier, kann das Experiment durchaus eine Trägerrakete für Entdeckerfreude oder Entdeckerfrust sein. Dann schließt sich aber die viel wichtigere, zweite Frage an: Warum experimentiere ich? Wenn wie geschildert nur die Note bzw. der Abschluss die Motivation ist, steht am Ende eines Experiments nicht unbedingt ein Lernerfolg. Als exploratives Werkzeug innerhalb der oben genannten Methoden ist das schon deutlich wahrscheinlicher. Also ein klares vielleicht: Das Experiment kann ein Ausgangspunkt für Neugier sein, muss aber nicht. Entscheidend ist, dass wir Sinn um die Handlung herum erzeugen.”